Nicht erst seit es Serien wie „Dr. House“ geschafft haben, die Komplexität medizinischer Zusammenhänge für ein breites Publikum darzustellen, ist der Begriff der Ganzheitlichkeit in aller Munde. Die Erkenntnis: Der Organismus als komplex verschachteltes System sollte bei Diagnose und Therapie nicht auf einen Teilbereich reduziert werden. Eine anspruchsvolle Aufgabenstellung für Fachärzte und ihre medizinische Spezialisierung. Dr. Dirk Rothhaupt gibt Einblicke in die Notwendigkeit einer integrativen PatientInnenbetreuung und die damit verbundenen Herausforderungen.
„Ganzheitlich“ oder „holistisch“ bedeutet, den Patienten in seiner Gesamtheit zu betrachten und damit vorhandene Beschwerden in einem möglichst breiten Zusammenhang verorten und verstehen zu können. Der Begriff „ganzheitlich“ wird gemeinhin häufig zu unspezifisch benutzt. „Ganzheitlich“ bedeutet meiner Betrachtungsweise nach, Beschwerden und Krankheitsbilder sauber zu diagnostizieren und eine klare Abgrenzung ihrer Ursachen auch differentialdiagnostisch voranzutreiben. Dazu gehört neben dem Einsatz modernster diagnostischer Verfahren ein Verständnis für komplexe funktionelle Zusammenhänge. Zum Beispiel kann ein Zusammenhang zwischen Muskel- und Gelenkbeschwerden und stressbedingten Überlastungssituationen bestehen. Dieser Zusammenhang muss in Anamnese und Diagnostik erkannt werden, um eine effektive Therapie einzuleiten. Ein Anspruch, den die moderne Medizin generell hat. In der Orthopädie besitzt Ganzheitlichkeit noch eine zusätzliche Dimension.
Auftretende Probleme im Bewegungsapparat sind generell komplex. Bei den klassischen Beschwerdebildern, die wir sehen, hängt das mit ihrer Entstehung im neuromuskulären Reflexkreislauf zusammen. Sie müssen sich das so vorstellen: Störungen auf Ebene der neuronalen Rezeptoren – also einer unteren Einheit unseres Wahrnehmungsapparats – wirken sich auf Gelenke, Muskeln und Nerven aus. Entstehen dadurch Folgestörungen, beeinträchtigen diese den Reflexkreislauf zwischen Nerven und Gehirn, aber auch das Stoffwechselgeschehen. Hinzu kommen häufig Entzündungen oder Verletzungen vor. Und schließlich zentralnervöse Komponenten wie Stress, Angst oder Ausgebranntsein. Bei einer ganzheitlichen Betrachtung berücksichtigen wir in unserem Fachbereich nicht nur das Zusammenspiel von Körper und Geist. Wir betrachten auch die vielschichtigen physischen Ebenen, die miteinander verwoben sind und zur Entstehung von Beschwerden und Krankheitsbildern beitragen.
Besonders schwierig ist es immer dann, wenn auf den verschiedenen Ebenen gleichzeitig Störungen auftreten. Diese Störungen sind besonders komplex zu verstehen, zu diagnostizieren und zu behandeln. Hängen sie zusammen, treten sie unabhängig voneinander auf? Solche verflochtenen Fragestellungen kommen in der Praxis häufig vor. Eine absolut individuelle Betrachtung meiner Patienten halte ich daher für zwingend notwendig. Um sich ein ganzheitliches Bild machen zu können, gehören dazu eine sorgfältige Anamnese, klinische Untersuchungen, eine detaillierte bildgebende Diagnostik sowie im Bedarfsfall ergänzende Analysen – in diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick ins Editorial unseres ersten Praxismagazins. Zum einen wären das die Laboruntersuchung entzündlicher, stoffwechselassoziierter Begleitfaktoren – liegt zum Beispiel eine Stoffwechselstörung oder rheumatische Erkrankung vor? Und zum anderen gehört dazu die Erfassung psychosozialer und psychosomatischer Begleitfaktoren. Wie sind die Lebensumstände meines Patienten, gibt es seelische Faktoren, die eine Rolle spielen könnten?
Indem wir das orthopädische Leistungsspektrum neben modernsten technischen Verfahren in der Diagnostik um Aspekte aus Osteopathie, Psychotherapie und Psychoanalyse ergänzen, ermöglicht uns dieser holistische Blick einewirklich tiefgreifende Problemanalyse. Im Hochleistungssport und im Spitzenmanagement sind psychotherapeutische Ansätze bereits seit langer Zeit etabliert. Ich selbst bin seit Jahren in der Psychosomatik tätig und absolviere aktuell eine Ausbildung zur fachgebundenen tiefenpsychologischen Psychotherapie.
Wir haben es häufig mit Wirbelsäulenschmerzen im Zusammenhang mit Stresssyndromen zu tun oder mit Anpassungsstörungen von Profisportlern nach einer traumatisierenden Verletzung, aber auch mit Anpassungs- und Erschöpfungskomponenten bei einer hohen Dauerbelastung im Alltag oder Stressbelastung im Spitzenmanagement. Gerade in diesen Fällen kann eine Beschränkung auf die körperlich empfundenen Symptome im schlimmsten Fall zu einer Verstärkung oder Fehlinterpretation des Krankheitsprozesses beitragen. Durch unseren ganzheitlichen Ansatz können wir einen deutlich weiteren Betrachtungsrahmen aufmachen und den Menschen vor uns in seiner tatsächlichen Lebenssituation begreifen, bevor wir medizinische Rückschlüsse ziehen.
Da gibt es zwei Aspekte. Zum einen spezialisieren wir uns als Fachärzte notwendigerweise zunehmend weiter und werden im Laufe vieler Jahre zu Experten auf unserem Gebiet. Gleichzeitig aber müssen wir den Blick bewusst weiten, um unser Fachwissen nicht zur „Scheuklappe“ werden zu lassen. Zum anderen müssen wir im Patientengespräch eine andere Herangehensweise wählen, wenn wir wirklich erfahren wollen, was den Menschen vor uns bewegt und was mit seinen Beschwerden zu tun haben könnte. Im Gegensatz zur rein somatischen Medizin, bei der wir im Erstgespräch aktiv Befindlichkeiten abfragen, ist hier die Gesprächssituation umgekehrt. Als Arzt muss ich den Patienten auch von sich aus erzählen lassen, um seine Eigenwahrnehmung möglichst frei von meinem Betrachtungsfokus zu machen. Dafür brauchen wir Zeit, Fingerspitzengefühl und einen unverstellten Blick. Erst wenn diese beiden Herausforderungen gemeistert werden, haben wir die Chance auf eine bestmögliche Therapie.